Übersicht Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in:
Die Befreiung der Musik. Eine Einführung in die Musik des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von F. X. Ohnesorg. Köln (MusikTriennale/Lübbe) 1994. S. 119-131.

Warum diese Töne?

Skandal und Provokation in der Musik

(5) Der inszenierte Skandal

H.W. Henze: Das Floß der Medusa

Ohne Skandal keine Presse - ohne Presse keinen Skandal: Daß die Presse den Eklat allerdings schon im Vorfeld inszeniert und mithilft vorzubereiten, um für die Premiere eine passende Schlagzeile zu haben, ist wohl eher die unrühmliche Ausnahme. Die journalistischen Mißgriffe anläßlich der gescheiterten Hamburger Uraufführung von Hans Werner Henzes Oratorium Das Floß der Medusa am 9. Dezember 1968 lassen sich jedenfalls nur mit der damaligen innenpolitischen Hysterie erklären. Was war vorgefallen? Seit längerem schon hatte Henze öffentlich seine Sympathie für die linken Studentengruppen und deren Kampf gegen das Establishment bekundet:

Unsere Gesellschaft lebt im Wohlstand. Schnelle Autos, gut funktionierende Kücheneinrichtungen und wirtschaftliche Beziehungen, Schickeria und "Bild-Zeitung", die für sie denkt, lassen jede Äußerung von Zweifel an diesem Zustand als Unvernunft, Kriminalität oder "von Osten" inspirierte Intrige erscheinen. [...] Musik kann unter den bestehenden Verhältnissen nur noch als Akt der Verzweiflung gesehen werden, als Verneinung. [...] Wo immer Kunst noch sich positivistisch geben will, verhält sie sich als lügenhaftes Abziehbild von Kultur. Notwendig sind nicht neue Museen, Opernhäuser und Uraufführungen. Notwendig ist, die Verwirklichung der Träume in Angriff zu nehmen. Notwendig ist die große Abschaffung der Herrschaft des Menschen über den Menschen [...], und das heißt: Notwendig ist die Schaffung des größten Kunstwerks der Menschheit: die Weltrevolution.[23]

Solche Äußerungen wurden zu der damaligen Zeit als unmißverständliche Kampfansage interpretiert. Und so erschien wenige Wochen vor der Hamburger Premiere im SPIEGEL ein Artikel, der versuchte, Henzes Musikästhetik und politisches Engagement ad absurdum zu führen:

Während sich Luigi Nono, Luciano Berio und Pierre Boulez seit annähernd 20 Jahren durch Serien, Aleatorik und elektronik zur neuesten Musik vortasten, ist Henze der alte Ästhet, der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische Eklektizist geblieben. Seine Avantgarde-Kollegen tut er, der mit Geld und forschen Worten für APO und SDS streitet und der auch gerne auf die Barrikaden gegangen wäre, wenn er nicht "eine Generation zu spät" wäre, ohnedies als "kleine Bürger" ab. Ihre Experimente sind für ihn zu "bourgeois" und "ohne jede Courage". So was macht Henze nicht. Ihm geht es um schönere Dinge. [...]
Aus Schönbergs ehrwürdigen Zwölfton-Reihen macht er artistisch ziseliertes Dur und Moll. [...] Seine virtuose Musik, voller Esoterik und kalkulierter Effekte, bietet eine irrationale Mischung aus erlesenen Fin-de-siècle-Räuschen, monotoner Hämmerrhythmik und süßer Italianità. [...]
Das ist Henzes große Revolution: Sie reproduziert das bourgeoise Musikideal. Dabei will er doch, wie er sagt, »bestimmte Zustände von Unterdrückung aufheben, eine bestimmte Bewußtwerdung mittels Musik erreichen.&aquo; Denn Henze komponiert fürs Volk. [...] Sein Publikum aber kommt in Smocking und Nerz, ins teure Salzburg und Edinburgh, in die Berliner Philharmonie und ins Amsterdamer Concertgebouw. Es knabbert nicht an den Fingernägeln, es riecht nicht nach Acht-Stunden-Tag. [...]
Mögen auch Che Guevaras Verdammte dieser Erde [dem Revolutionsführer Che Guevara hat Henze das Floß der Medusa gewidmet; Anm. d. Verf.] auf die Revolution warten - Professor Henze schaut auf zu den Sternen. Er ist der Privatier der Modernen Musik.[24]

Der Hamburger SDS reagierte denn auch prompt auf diesen Verrat am Klassenkampf. Die Studenten besetzten vor der Aufführung die Bühne, pflanzten Spruchbänder, eine rote Fahne und ein Bildnis Che Guevaras auf, um den Abbruch der Veranstaltung oder (nach anderen Lesarten) eine Grundsatzdiskussion mit dem Premierenpublikum zu erzwingen. Der Intendant des Norddeutschen Rundfunks, der das Konzert veranstaltete und live übertragen wollte, sah sich schließlich genötigt, die Polizei zu rufen und den Saal stürmen zu lassen. Während Hans Werner Henze sich mit den Podiumsbesetzern solidarisierte und in die »Ho Chi Minh«-Rufe einstimmte, wurde der Librettist des "Oratorio volgare" Ernst Schnabel irrtümlicherweise von der Polizei verhaftet. Die Veranstaltung mußte schließlich abgebrochen werden, und der NDR sendete stattdessen einen wohlweißlich aufgezeichneten Mitschnitt der Generalprobe.

Die verhinderte Premiere wurde von der bürgerlichen Presse genüßlich ausgewalzt: Skandal im Konzertsaal, Das Floß der Medusa - gestrandet, Die Revolution fand im Saale statt lauteten die gängigen Schlagzeilen. Der Tenor der Berichterstattung war überall der gleiche: Die Linken stören die Aufführung eines Werkes, dessen politische Tendenz ihnen eigentlich genehm sein müßte und verraten mit dieser Aktion einen der ihren. In gewohnter Manier besetzen sie die Bühne, bilden Sprechchöre und legen eine bürgerliche Institution lahm, ohne strategischen Nutzen daraus zu ziehen. Kurzum: ein Haufen von Chaoten, und der Komponist Hans Werner Henze ist naiv genug, sich vor ihren ideologischen Karren spannen zu lassen.

Damit war das Feindbild, das 1968 die Bundesrepublik überschattete, wieder einmal bestätigt. An den Hintergründen und den Drahtziehern schien niemand interessiert. Daß die Linken keine homogene Gruppierung waren, sondern sich in verschiedene Fraktionen aufsplitterte, die sich gegenseitig bekriegten - dies war für einen Außenstehenden damals schwer nachzuvollziehen. Und so wurde auch die folgende Begebenheit von niemandem so recht zur Kenntnis genommen: Als Anhang zum Textbuch veröffentlichte der Librettist Ernst Schnabel seine Erlebnisse im Zusammenhang mit der gescheiterten Uraufführung. Unter anderem schreibt er, er sei schon im Vorfeld von verschiedenen Seiten gewarnt worden, der Artikel im SPIEGEL werde von der [Hamburger] Studentenschaft als Aufruf verstanden, die Uraufführung der Medusa zu stören. Dieser Warnung habe ich nicht geglaubt. Sie war mir zu phantastisch, denn meine Phantasie hat Grenzen. Tatsächlich aber ist zwei Stunden vor dem Konzert ein Mitarbeiter des SPIEGELS beim Hamburger SDS erschienen und hat zur Sabotage aufgefordert. [...] In dem erwähnten "Mitarbeiter" keinen Postillon der Musikredaktion des SPIEGELS zu vermuten, wäre bis zum Beweis des Gegenteils idiotisch. [25]

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